Der Pulverturm in Lingen – Geschichte, Wiederaufbau und heutige Nutzung
von Tino Böhmer
Der Pulverturm in Lingen ist ein bedeutendes historisches Wahrzeichen, das auf eine bewegte Geschichte zurückblickt. Ursprünglich als Teil der Burg Lingen erbaut, die im 13. Jahrhundert durch die Grafen von Tecklenburg gegründet wurde, diente der Turm als Arsenal und Lagerstätte für Schießpulver zur Verteidigung der Stadt. Der Bau des Pulverturms innerhalb der zusätzlich gesicherten Burganlage lässt sich vermutlich zu Beginn des 15. Jahrhunderts datieren.
Das Gemäuer besteht aus Sandsteinen, die die Lingener Bauern in Hand- und Spanndiensten für den Grafen aus den Steinbrüchen am Huckesberg bei Bevergern heranschafften. Diese historische Bauweise zeigt nicht nur die regionalen Ressourcen, sondern auch die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der damaligen Zeit.
Am 2. Mai 1607 ereignete sich eine verheerende Explosion, die große Teile der Festung zerstörte und zahlreiche Menschenleben forderte. Ursache war wahrscheinlich ein nicht gelöschtes Feuer in der Burg, das das gelagerte Schießpulver zur Explosion brachte. Augenzeuge der Katastrophe war der Lingener Stadtpfarrer Joachim Hamconius, der berichtete, wie Trümmerteile durch die Luft flogen und fast jedes Haus in der Stadt beschädigten.
Der Keller des Pulverturms, der als einziger Gebäudeteil von der Explosion verschont blieb, wurde während des Zweiten Weltkriegs als Luftschutzraum für die Schüler der nahegelegenen Castellschule genutzt. Diese Schule, die im 19. Jahrhundert auf dem alten Burggelände errichtet wurde, erhielt ihren Namen in Anlehnung an die ehemalige Burganlage. Der Pulverturm war zu dieser Zeit nur noch ein drei Meter hoher Stummel und diente als beliebte Kulisse für Klassenfotos, was ihn zu einem emotionalen Symbol der Stadtgeschichte machte. Nach der Explosion wurde die Ruine der Burg als Steinbruch genutzt, und die Lingener Bürgerschaft verwendete die Trümmer für die Fundamente ihrer neu gebauten Wohnhäuser. So wurden also Überreste der Burg praktisch weiterverwendet und konnten dadurch in die städtische Struktur von Lingen eingehen.
An die einstige Burganlage erinnerte schließlich nur noch der Name Castellstraße. 1630 wurden die Festungsanlagen geschliffen, nachdem die spanischen Truppen während des Spanisch-Niederländischen Krieges abzogen. Über 1.200 Arbeitskräfte aus dem Osnabrücker Raum trugen die Wälle und Bauwerke ab, nur die Ruine des Pulverturms blieb erhalten und verfiel über die Jahrhunderte.
Der Wiederaufbau des Pulverturmes entstammt einem Konkurrenzprojekt zwischen den Kivelingssektionen „Lütje Fente“ und „Die Welfen“. Beide Sektionen hatten sich ursprünglich vorgenommen, den Machuriusbogen neu zu errichten.
1646 errichtete der Droste Rutger von Haersolte ein prächtiges Tor am Eingang seines Hofes und adligen Hauses im heutigen Narjes Park. Der Bogen bestand aus holländischen Hartbrandsteinen, verziert mit Gesimsen, Risaliten und Sandsteinkugeln und wurde durch ein geschmiedetes Gitterwerk verschlossen. Im Mittelstück des Torbogens befand sich der Kopf des Machurius, dargestellt als grimmig blickendes, zwienasiges Antlitz, das der Volksmund mit der Gestalt eines bösen Geistes in Verbindung brachte. Der Legende nach hatten Mönche den Geist des Machurius aus der Stadt verbannt und dazu verdammt, sich nur in Schaltjahren, um einen Hahnentritt der Stadt zu nähern, dabei Wasser in ein durchlöchertes Gefäß zu tragen. Sollte er es schaffen, mitsamt dem Wasser die Stadt zu erreichen, würde er erlöst werden.
Die Suche nach dem Schlussstein des Machuriusbogens wurde zur entscheidenden Herausforderung in dieser Konkurrenz, denn wer diesen finden sollte, dem war das Recht und die Legitimation zugesprochen, den Bogen neu zu errichten. Schließlich erwarb die Sektion „Lütje Fente“ diesen Schlussstein von einem Lingener Bürger, den diesen 1955 entdeckte. Diese errichtete daraufhin den Machuriusbogen, der bis heute vor dem Eingang des Pulverturmgeländes steht und als „Fente-Bogen“ bekannt ist. Zum Kivelingsfest 1961 schenkte „Lütje Fente“ der Stadt Lingen den neu errichteten Bogen als Zeichen ihrer Leistung und ihres Engagements.
Doch „Die Welfen“ ließen sich dadurch nicht entmutigen. Aus einer Mischung aus Ehrgeiz und Kreativität beschlossen sie kurzerhand, der Stadt ein noch größeres Denkmal zu schenken und wählten hierfür die jahrhundertealte Ruine des Pulverturmes. Im Jahr 1960 begannen sie mit dem Wiederaufbau, der damals von Pflanzen und Bäumen überwuchert war. In über 3000 Arbeitsstunden errichteten die Mitglieder der Sektion den Turm erneut. Dabei wurden 250 Tonnen Bruch- und Kieselsteine, 70 Säcke Kalk und über 200 Säcke Zement verwendet. Die Arbeiten fanden oft unter schwierigen Wetterbedingungen statt, und die „Welfen“ opferten Abend für Abend ihre Freizeit, um ihrer Heimatstadt dieses Denkmal zu erhalten. Eine originalgetreue Rekonstruktion konnte aufgrund fehlender Baupläne nicht erreicht werden, weshalb sich der Wiederaufbau auf zwei Stockwerke beschränkte. Der untere Teil des Pulverturms mit dem Kellergewölbe und einer originalen Schießscharte in Richtung Bonifatiuskirche stammt noch aus dem Mittelalter und verleiht dem Pulverturm eine historische Authentizität, die ihn zu einem einzigartigen Zeugnis mittelalterlicher Verteidigungsarchitektur in Lingen macht. Zum Kivelingsfest 1961 wurde der Pulverturm feierlich als Geschenk der Kivelinge an die Stadt Lingen übergeben.
Aus der anfänglichen Konkurrenz zwischen den Sektionen „Lütje Fente“ und „Die Welfen“ erwuchs eine enge Freundschaft, die bis heute anhält. Beide Sektionen vereint nicht nur das gemeinsame Engagement für ihre Heimatstadt, sondern auch der Stolz auf ihre jeweiligen Denkmäler, die heute Seite an Seite das historische Pulverturmgelände in Lingen prägen und zum Symbol für Zusammenhalt und Gemeinschaftsgeist geworden sind.
Heutige Nutzung und bauliche Veränderungen
Heute dient der Pulverturm der Sektion „Die Welfen“ als Versammlungsort und ist ein lebendiger Bestandteil des kulturellen Lebens in Lingen. Auf dem umliegenden Gelände finden regelmäßig kulturelle Veranstaltungen statt, darunter das Kivelingsfest, das alle drei Jahre zu Pfingsten gefeiert wird, sowie Open-Air-Veranstaltungen beim Altstadtfest.
Seit 2000 wurden mehrere Maßnahmen zur Erhaltung und Verschönerung durchgeführt, darunter der Einbau eines gusseisernen Ofens (2000), die Erneuerung der Außentreppe (2001), der Einbau eines neuen Haupttores (2000) sowie die komplette Neugestaltung des Innen- und Kellerraums und die Erneuerung des Kerkers (2010). Aufgrund seiner geschichtlichen Bedeutung ist der Pulverturm seit den 2000er Jahren als Einzeldenkmal mit der Nummer 95 im Denkmalatlas Niedersachsen aufgeführt.
Um den Erhalt und die Restaurierung des Pulverturms langfristig zu sichern und die finanzielle Last nicht allein auf den Schultern der Sektion „Die Welfen“ ruhen zu lassen, hat sich im Jahr 2024 der Förderverein „Pulverturm zu Lingen e.V.“ gegründet. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Turm finanziell zu unterstützen und damit dieses historische Wahrzeichen Lingens auch für zukünftige Generationen zu erhalten.
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Wikipedia: Pulverturm Lingen. Online verfügbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Pulverturm_Lingen, zuletzt geprüft am 27.02.2025.
Bildquellen:
https://www.sektion-schreckensteiner.de/pulverturm/ letzter Zugriff (5.3)
https://emslandmuseum.de/2025/01/31/der-pulverturm/ letzter Zugriff (5.3)
https://heimatverein-lingen.de/history/archivaliedesmonats/explosion-auf-der-burg/attachment/pulverturm-lingen-0026/ letzter Zugriff (5.3)
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